< Winterpause
Winterpause
Vom 18. Dezember 2023 bis zum 7. Januar 2024 bleibt unser Büro unbesetzt. Ab dem 8. Januar sind wir wieder wie gewohnt für euch da.

| | Stories EJZ - NA DAN(N)

Thorsten Hensel – Kaufmann, Netzwerker, Mobilitätsbeweg(t)er

Thorsten Hensel – Kaufmann, Netzwerker, Mobilitätsbeweg(t)er

|       | Stories EJZ - NA DAN(N)

Über einen außergewöhnlichen Bio-Supermarkt und einen Mann, der im Wendland der unbegrenzten Möglichkeiten viel bewegen will und bewegt...

ZUR PERSON
Name: Thorsten Hensel
Alter: 54
Berufsbezeichnung/Job: Kaufmann im Einzelhandel
Firma: Wendlandmarkt Thorsten Hensel
Im Wendland seit: 2007
Aufgewachsen in: Essen
Wohnhaft in: Trebel
Ausbildung: mittlere Reife / Verkäufer / Kaufmann im Einzelhandel
Wie lange heute Morgen zur Arbeit gebraucht: 13 Minuten

Zufrühkommen ist etwas Schönes: Noch zehn Minuten zum vereinbarten Treffen mit Thorsten Hensel. Ich spaziere durch den Wendlandmarkt in “downtown” Lüchow, lasse mich von einem schicken Wollschal mit bunter Litze fast zu einem Impulskauf verleiten, schaue mir das Weinangebot an und packe Eier in den mitgebrachten Karton. Auf dem Weg zur Kasse fällt mir ein Mann ins Auge, der Regale auffüllt. Er kommt mir bekannt vor — so wie einem nach einer Weile im Wendland viele Menschen bekannt vorkommen. “Thorsten?” Genau, er ist es. Noch ist mir nicht genau klar, woher ich ihn kenne, aber auf jeden Fall ist er mein heutiger Gesprächspartner und der Inhaber des Wendlandmarkts.

Du bist seit 16 Jahren im Wendland. Hattest du schon davor eine Verbindung zum Landkreis?

Thorsten Hensel: Für das Wendland habe mich schon seit Wendezeiten interessiert: diese besondere, abseitige Lage, auf drei Seiten die DDR; der am dünnsten besiedelte Landkreis ­der BRD, viel Natur – das war alles irgendwie spannend. Ich war damals ehrenamtlich für den Fahrgastverband PRO BAHN aktiv. Dadurch hatte ich viel mit Fahrplänen zu tun. Dabei bin ich auf das Wendland gestoßen. Seitdem habe ich hier regelmäßig Urlaub gemacht, hab dann meinen Lebensgefährten kennengelernt. Der arbeitete damals in Mecklenburg und ich im Ruhrpott. Irgendwann wollten wir dann beide hierherziehen.

Und wie hast du das arbeitsmäßig gemacht – hast du gleich einen Biomarkt gekauft?

Nein. Ich habe mich erstmal von meinem damaligen Arbeitgeber nach Uelzen versetzen lassen – ich hatte ja Kaufmann im Einzelhandel gelernt und in Essen für einen Lebensmittel-Discounter gearbeitet. Um nach Uelzen zu kommen, brauchte ich natürlich ein Auto und den Führerschein. Den habe ich dann hier erstmal gemacht. Das war pro Weg fast eine Stunde Autofahrt von Trebel aus, wo ich wohne. Ich hab da zwar gut verdient, aber bei den langen Arbeitszeiten war das irgendwann kein Leben mehr. Für die Frühschicht musste ich um 5 Uhr los und kam um kurz vor 19 Uhr zurück. Für die Spätschicht fuhr ich um halb 11 los und kam kurz vor Mitternacht nach Hause.

In Trebel gab es damals einen kleinen Laden mit einem Café. Der Besitzer wollte in den Ruhestand gehen. Zu der Zeit war ich am Überlegen, mich selbständig zu machen mit Regional- und mit Bioprodukten. Ich hab dann den Laden übernommen und das Angebot ausgeweitet. Das waren nur 60 Quadratmeter, aber ein richtiger Vollversorger-Laden – bis auf Kondome und Unterhosen hast du da fast alles gekriegt.

Und wie lief der Laden? Trebel hat ja nur um die 300 Einwohner*innen. Drumrum sind auch nicht viele Leute.

Da war große Euphorie. Wir haben Freitagabends gegrillt. Da kamen oft 40, 50 Leute zum Bratwurstessen. Das ganze Dorf hat sich getroffen. Das lief so gut, dass ich nach 1 ½ Jahren dachte: "Wir sollten noch ‘nen zweiten Laden aufmachen."

Er sagt “wir”, und etwas später “unser Laden”, obwohl letztlich nur er verantwortlich war, wenn etwas nicht gut lief. Aber das “wir” passt: Je länger man Thorsten zuhört, desto mehr spürt man, wie verbunden er ist mit den Menschen um sich herum – im Laden, im Dorf, im Wendland und darüber hinaus.

Dann wurde ein Laden in Lüchow frei, gegenüber der Sparkasse – 150 Quadratmeter, das lief gleich richtig gut, der in Trebel irgendwann leider immer schlechter. Die Leute fuhren mehr und mehr aus dem Dorf in den großen Laden. Und für den kleinen hab ich nachher tausend Euro im Monat zugeschossen. Das ging natürlich auf Dauer nicht. Ja, und dann wurde dieser Laden hier in der Lange Straße frei. Der ist vier mal größer als der andere. Das war die ersten Jahre auch wirklich schwierig und die Bank musste die Füße stillhalten. Das war im August 2013. Und vor drei Jahren haben wir den Laden erweitert. Gerade als es mit Corona losging. Das war völlig irre; so hatten wir das natürlich nicht geplant.

Aber es hat geklappt, wie man sieht.

Genau, der Laden ist in vieler Hinsicht ideal. Hier ist Platz für das volle Programm. Also auch Bio- und Regionalprodukte. Und er ist barrierefrei. Inzwischen habe ich dreizehn Mitarbeitende.

Wie viel Zeit verbringst du hier an einem typischen Tag?

Naja, so 12 Stunden – der Laden ist von 7:00 bis 19:00 Uhr geöffnet.

Man sollte ja meinen, damit hättest du die Hände gut voll. Aber du machst auch noch so einiges andere.

Als ich hier vor 12 Jahren reingegangen bin, bin ich auch in die Werbegemeinschaft IHG Lüchow eingetreten. Und wie das halt so ist, wirst du Vorstandsmitglied, dann irgendwann 2. Vorsitzender.

Ich muss lachen. “Wie das so ist” – als sei das eine automatische Entwicklung. Er wirkt völlig entspannt. Zwischendurch kommen Mitarbeiter in sein Büro, suchen etwas, haben Fragen.

Wir haben drei verkaufsoffene Sonntage hier, die ich organisiere, und auch die Weihnachtsverlosungen. Und jeden Monat machen wir eine Gemeinschaftsanzeige. Wir haben 85 Mitglieder. Da sind auch Versicherungen, Banken und Rechstanwälte dabei.

Er zieht ein Faltblatt zu sich heran.

Als ich in Trebel den Laden aufgemacht hatte, habe ich auch einen Markt- und Gewerbeverein gegründet. Da sind Gastronomie, Handwerker, Ferienwohnungenvermietungen usw. drin. Und das hier (er reicht mir das Faltblatt) ist so ’ne Art Gelbe Seiten und Tourenplan in einem. Da können Urlauber sehen, was es in jedem Dorf für Möglichkeiten gibt  und die Einheimischen natürlich auch, wenn die einen Tischler suchen oder so.

Und dann sind da noch die ganzen Events, die wir organisieren – den Trebeler Kiekemarkt mit 50 Ausstellern übers ganze Dorf verteilt. Da kommen etwa 3.000 Leute. Das Heideblütenfest, mit Livemusik…

Immerhin gibt er zu, dass das alles “ein Riesenaufwand” ist und viel Arbeit macht. Er ist also doch ein normaler Mensch – nur anscheinend einer mit sehr viel Energie und Gemeinschaftssinn.

Und ich bin natürlich da auch im Gemeinderat (natürlich) und im Kirchenvorstand und im Samtgemeinderat und im Kreistag. Ich wollte schon lange etwas in der Kommunalpolitik machen, weil es mich z.B. interessiert hat den Landkreis zu erhalten. Jetzt bin ich in sechs Ausschüssen – Betriebsausschuss, Welterbeausschuss… Und dann schlug irgendwann jemand vor: "Dann kandidier doch als Samtgemeinde-Bürgermeister!"

Jetzt fallen mir auch die Wahlplakate wieder ein: “Thorsten für das Wendland”. Daher kam er mir bekannt vor.

Es gab eine Stichwahl. Letztlich unterlag ich mit nur 700 Stimmen Unterschied  völlig irre. Das wäre dann hauptamtlich gewesen. Aber das hätten wir schon irgendwie hingekriegt mit dem Laden. Wir sind hier ein gutes Team.

Vielleicht war es gar nicht schlecht, dass es nicht geklappt hat. Sonst könntest du dich jetzt nicht so für die Wiederbelebung der Bahnstrecken einsetzen.

Genau. Ich mache auch viel für den ÖPNV. Es gibt seit über 20 Jahren den Fahrgastrat Wendland. Das ist so was wie der VCD (Verkehrsclub Deutschland). Der Initator zog weg und ich habe übernommen. Da machen wir viel mit Bus und Bahn im Wendland. Wir machen jetzt grad eine große Kampagne, cleverMOWE, mit dem Ziel, ein vernünftiges Busnetz zusammenkriegen und um die dafür nötige Förderung zu bekommen.

Ja, und für’s Bahnnetz haben wir den Förderverein Jeetze(l)talbahn gegründet – weißt du, warum das “l” in Klammern steht?

Zum Glück weiß ich’s: Der kleine Fluß gewinnt oder verliert – je nach Richtung – genau an der Landesgrenze das “l”: in Niedersachsen heisst er Jeetzel, in Sachsen-Anhalt Jeetze. Ich erzähle ihm, dass ich schon oft an der Stelle war. Thorsten lächelt zufrieden und nickt.

Den Verein haben wir vor fünf Jahren in Wustrow mit 35 Mitgliedern gegründet; mittlerweile sind wir 73. Der Dauerbrenner ist die Bahn von Dannenberg nach Lüchow und Wustrow. Wir wollen die Strecke von Lüneburg über Dannenberg, Lüchow, Salzwedel, Klötze und Oebisfelde nach Wolfsburg reaktivieren.

Die Strecke wurde durch die deutsche Teilung unterbrochen. Zwischen Lüchow und Wustrow liegen noch Gleise. Aber wie geht’s dann weiter nach Salzwedel?

Die Trasse ist noch bis Wustrow da. Dann ginge es auf dem aktuellen Radweg weiter. Das ist natürlich schwierig, weil da keine Gleise mehr liegen. Und dann sind da auch noch ein paar marode Brücken. Das würde wahrscheinlich zwei, drei Millionen kosten. Es gäbe aber bis zu 90% Förderung.

Er erklärt mir, wo die Brücken liegen, welche saniert werden müssen, wie viel Prozent Förderung vom Bund kommen würde, wie viel vom Land. Zudem hängt die Förderung davon ab, ob Güterverkehr stattfindet. Wo findet er in seinem Gehirn Platz für all die Details?

Da ist natürlich im Moment kein Güterverkehr, weil die Strecke eben nicht in Betrieb ist. Da müssen wir uns noch etwas einfallen lassen. Einen großen Güterkunden hab ich schon gefunden: der ist in Mechau.

Es wundert mich kaum; Thorsten kennt sich in der Altmark genauso aus wie im Wendland.

Woher kommt das, dass du dich überall so einbringst?

In Bezug auf den ÖPNV: Ich höre oft von Leuten, dass sie gerne hierherziehen würden, aber für sie eine Zuganbindung unabdingbar ist. Und dann hänge ich einfach unheimlich an dem Landkreis. Die Leute sind hier sehr offen und ehrlich, sehr herzlich und hilfsbereit. Die Landschaft ist wunderbar. Wir sind in Trebel sehr gut aufgenommen worden. Und du kannst hier viele Dinge machen, die woanders allein vom Geld und vom Platz her nicht gehen. Du kannst hier vieles ausprobieren. Man spricht immer von den USA als dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, aber das ist hier auch so.

Es ist Zeit für Thorsten, wieder Regale einzuräumen, an der Kasse zu stehen, was immer so anfällt. Ab jetzt ist außer ihm nur noch eine Mitarbeiterin da. Wann und ob er schläft, habe ich nicht herausgefunden, aber im Hinausgehen erzählt er noch, dass er und sein Partner eine kleine öffentliche Bücherei in ihrem Haus einrichten möchten.

Eine Bücherei im eigenen Haus. Das freitägliche Bratwurstgrillen im Dorf. Die Jeetze(l)talbahn. Den Landkreis erhalten. Im Grunde trifft sein einstiger Wahlkampfslogan auf alles zu, das er anpackt: “Thorsten für das Wendland”. Unterwegs auf dem Fahrrad nach Hause klingt das Gespräch noch nach und ich füge in Gedanken hinzu: “… für die Gemeinschaft”. Im Wendland und darüber hinaus.

---

Das Interview führte Kerstin Lange im November 2023 für Wendlandleben.

Unternehmensportraits